Gesucht, tschechischer Autor mit fünf Buchstaben: K-A-F-K-A. Ohne den Stift abzusetzen, schreibt die Frau die Buchstaben in die schwarz umrandeten Kästchen. Für eine leidenschaftliche Kreuzworträtsel-Löserin, wie sie eine ist, war die Frage ein Kinderspiel. Sie hätte in diesem Fall sogar sein Geburtsjahr gewusst. Sie selbst kam genau 100 Jahre später auf die Welt. Ein Zufall?

Komische Welt, komplexe Welt, einschüchternde Welt. Ob Kafka seine Umgebung vor 100 Jahren auch so wahrgenommen hat? Die Frau sitzt gedankenverloren da, mit ihrem abgeknabberten Bleistift in der Hand und schaut in die Ferne. Plötzlich blickt sie nervös zur Seite. Was war das für ein Geräusch? Bloß Hundegebell. Ihr Körper entspannt sich wieder. Für einen Moment zucken ihre Mundwinkel nach oben. Sie ist gerade dabei, in einen kurzen Tagtraum abzudriften, da erschreckt sie erneut. Das Gebell ist nun lauter. „Meine Güte“, stöhnt sie genervt, „jetzt lebe ich schon so viele Jahre alleine, stehe meine Frau und lass mich von einem WAU-WAU aus der Ruhe bringen. Mehr noch, ich spüre Unbehagen. Blöder Köter!“

Mach schon!

Plötzlich fällt ihr Blick auf die Armbanduhr. Es wird Zeit. Mit einem Griff schnappt sie sich die Tasche neben dem Tisch und öffnet sie. Behutsam legt sie den Inhalt Stück für Stück vor ihr auf. Zufrieden betrachtet sie ihre Utensilien und beginnt verschmitzt zu lächeln. „Soll ich wirklich?“ Auf die wachsende Unsicherheit folgen Scham und Wut – ein ihr gut bekanntes Muster: „Aber was, wenn …“, erhob sich eine zaghafte Stimme in ihr. Die Antwort kam prompt und aggressiv: „Was soll das Zögern? Wovor hast du Angst? Das ist doch lächerlich. Willst du lächerlich sein? Du ziehst das jetzt durch!“ Ein liebevolles Selbstgespräch sieht anders aus. 

Sie schlüpft in das schwarze Kleid und legt ihre Perlenkette an. Dann wischt sie sich das längst verblasste Tages-Make-up aus dem Gesicht und setzt den tiefroten Lippenstift an. Normalerweise werden Lippen zuletzt geschminkt, sie weiß das, aber heute gibt es keine Regeln.

Signalrot

Die grelle Farbe verleiht ihr sogleich etwas Obszönes, Lautes, Derbes. Alles Attribute, die nie mit ihrer Person in Verbindung gebracht werden würden. So ist sie nicht. Laut werden liegt nicht in ihrer stillen Natur. Unhöflich agieren – nein, danke. Unanständige Worte waren ihr zuwider. Selbst wenn jemand im Raum auf gut Wienerisch seinen Frust von der Seele schimpfte, fühlte sie sich peinlich berührt. 

Doch heute ist etwas anders. Mit jedem Kleidungsstück, das sie anzog und mit jedem Pinselstrich im Gesicht, wuchsen selten gezeigte Gefühle in ihr: Da waren plötzlich Stärke, Mut, Selbstbewusstsein, Arroganz, Egozentrik. Beim Glattstreichen der roten Satinhandschuhe an ihren Unterarmen gesellte sich noch eine Prise Eleganz dazu. 

Zuletzt setzt sie sich die Perücke auf und zupft die Haarsträhnen zurecht. Dann fällt ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Sie erkennt sich kaum in diesem viel zu stark geschminkten Vamp, der ihr entgegen blinzelt. Doch umso länger sie sich selbst betrachtet, gefällt ihr, was sie sieht. Diese Person ist laut, füllt den Raum, wenn sie ihn betritt, sagt, was sie denkt, ohne Rücksicht darauf, ob es jemand hören mag. Da ist es wieder, das verschmitzte Lächeln. Sie zwinkert sich selbst geheimnisvoll und mit Bösem im Sinn zu. Mit einer letzten Handbewegung verwischt sie den Lippenstift. Heute Abend hat sie keine Lust auf Perfekt und wie es sich gehört. Die Verwandlung ist gelungen. Rette sich wer kann.

Happy Halloween!

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